Im Allgemeinen gilt "Coppelia" als direkte Adaption von
E.T.A.Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann" (1816), eine Auffassung
die aufgrund zahlreicher Bezugnahmen, wie etwa das dem Libretto vorangestellte
Motto, Name und Tätigkeit Coppelius' und eine Reihe von Motiven, durchaus
berechtigt erscheint. Die eigentlichen Vorbilder der dramaturgischen
Gesamtstruktur von "Coppelia" sind jedoch eher in einer Reihe von
musiktheatralischen Werken zu suchen, die ihrerseits von Hoffmanns Dichtung
inspiriert wurden. Hauptquelle ist Adams Opera-comique "La Poupee de
Nuremberg (1852), deren Protagonisten Coppelius, Bertha und Miller den Figuren
Coppelius, Swanilda und Franz entsprechen. Die harmonische Zusammenarbeit
zwischen Delibes, Saint-Leon (dem Ballettmeister der uraufführenden Pariser
Opéra) und dem Librettisten Charls Nuitter, die schon für die Entstehung von
"La Source" (1866) kennzeichnend war, fand mit "Coppelia"
ihre Fortsetzung. Uneinigkeit herrschte nur hinsichtlich der Besetzung der
weiblichen Hauptrolle: wärend Nuitter Léoninte Beaugrand favorisierte,
hatte Delibes wärend des Komponierens Angelina Fioretti vor Augen. Das
entscheidende Wort aber hatte Saint-Leon, dessen Wahl auf Adele Grantzow fiel,
die Muse seiner späten Schaffensjahre. Im Sommer 1868 probte er mit Grantzow
an dem zu diesem Zeitpunkt noch "La Poupeé de Nurnberg" genannten
Ballett. Letztendlich fiel die Rolle der Swanilda, die ursprünglich Olimpia,
dann Antonie und Nani hieß, aufgrund einer Erkrankung Grantzows an die erst
15-jährige Giuseppina Bozzacchi, die in Paris im Stiel der klassischen
französischen Schule ausgebildet worden war. Die Wandlung des Titels zu
"La Fille aux yeux d'email" und schlieißlich zu Coppelia war durch
Verlegung der Handlung von der Spielzeugstadt Nürnberg in eine galizische
Grenzstadt begründet.
Die Autoren von "Coppelia" vollzogen die Verquickung des
heiter-französischen Elements mit der an sich zeitlosen Grundthematik des
"Sandmanns" (Gautier sieht Coppelius als >>Prometheus einer
Puppe<<). Diese Sicht ließ eine der bedeutendsten Schöpfungen der
Ballettliteratur entsehen. Eingebettet in die Aura des Spielerisch-Erotischen,
die aus der Tatsache resultiert, dass es sich bei dem zu belebenden Geschöpf
um eine Frau handelt, erhält die Thematik durch die Technikgläubigen der
Entstehungszeit neue Aspekte. So gesehen ist der mitunter erhobene Vorwurf,
dem Ballett mangele es an Hoffmanscher Drastik, hinfällig.
"Coppelia" stellt sich vielmehr als ein Werk dar, in dem Szenarium,
Musik und Choreographie ein homogenes Ganzes bilden. In geradezu modellhafter
Weise wird mit den Mitteln des Tanzes die Geschichte entwickelt: Klassischer
Tanz, Charaktertanz, Pantomime und Divertissement erreichen einen zuvor nicht
erzielte Grad der Ausgewogenheit. Die im Kleinstadtmilieu angesiedelte
Handlung wird im Gegensatz zur Hochromantik von realen Personen getragen,
deren Liebesbeziehung durch die dämonische Welt der Automaten in Konflikt
gerät.
Um seiner Vorliebe für Nationaltänze nach kommen zu können, wählte
Saint-Leon eine galizische Grenzstadt als Ort der Handlung. Dieser Schauplatz
eines österreichischen Kronlandes, an der Grenze zur ungarischen
Reichshälfte gelegen, bot Choreograph wie Komponist die Gelegenheit für
Mazurka und Csárdás, an deren aus eigener Anschauung gewonnener
Authentizität beiden gelegen und denen besonderer Erfolg beschieden
war. Programmatisch ist der Einsatz des Walzers, der im Zentrum jedes
der drei Bilder steht und als Ausdruck der Verbundenheit der galizischen
Bevölkerung mit der Residenzstadt Wien gedacht ist. Delibes Komposition ist
in jeder Hinsicht außergewöhnlich. In ihrem melodischen und harmonischen
Reichtum geht es nicht nur über den zeitgenössischen Standard einer
Ballettkomposition hinaus sondern ihre Glanznummern, etwa die "Valse
lente" und die "Valse de la poupée", verselbstständigten sich
zu musikalischen Schlagern. Die Qualitätssteigerung der Musik war nicht
zuletzt ausschlaggebend für die strukturelle Entwicklung des Balletts. Der
Funktionswandel der Tänze von der Einlage zum handlungstragenden Element
bewirkt die eigentliche Umwertung in der Anlage der Gesamtdramaturgie sowohl
in musikalischer als auch in choreographischer Hinsicht. Delibes`musikalische
Gestaltung geht von den Tänzen aus, deren Charakter er als inhaltliches
Ausdrucksmittel verwendet, und entwickelt darüber hinaus in der szenischen
Musik jene für das klassische Ballett vorbildhafte erzählerische Qualität,
die konstitutiv für die Kunstgattung wird. Die damit verbundene Konsequenz
ist die einzigartige Einbindung des obligaten Schlussdivertissements in die
eigentliche Handlung: Bereits im 1. Akt durch den auftritt des Bürgermeisters
und dessen Verteilung der Rollen im allegorischen Spiel der Divertissements an
die schönen Mädchen schlüssig vorbereitet, stellt es eine Übertragung der
mit der Puppenthematik verwobenen Liebesgeschichte ins Metaphorische dar.
Quelle: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters Bd. 5,
R.Piper GmbH & Co KG München 1994
(Herausgeber Carl Dahlhaus)